Kapitel 2
Die Angst und die Wahrhaftigkeit
Der Zusammenhang, welcher zwischen der Angst und der Wahrhaftigkeit besteht, scheint ein wesentlicher Schlüssel zu einem besseren Verständnis dessen zu sein, was unsere Ängste auslöst und ihnen ihre Dauer und ständige Präsenz verleiht.
Nun meint Wahrhaftigkeit in unserem Sinne nicht die Wahrheit des Einzelnen, welche wandelbar und vielerlei Interpretationen unterworfen ist, sondern jene ursächliche Wahrheit, die im Grunde unser Wesen ausmacht und jenseits aller Beeinflussung von außen in uns vorhanden ist .
Diese Wahrhaftigkeit drängt danach, sich zu manifestieren und in unserem Dasein den bestmöglichen Ausdruck zu erlangen um so uns selbst, mit allem was uns ausmacht in diese Welt einzubringen und zu ihrem Wohle tätig zu werden.
In einer Welt, welche in ihren religiösen, politischen, moralischen und gesellschaftlichen Systemen weit davon entfernt ist, wahrhaftig zu sein, gelingt es dem Einzelnen immer weniger, seine Ursprünglichkeit zu bewahren und schon gar, dieser Ausdruck zu verleihen. Allzu rasch stößt dieser an die Grenzen der herrschenden und ihn über weite Strecken beherrschenden Systeme und zieht sich auf einige wenige Nischen in seinem Alltag zurück, in denen er versucht, zu sein, was er ist, ohne Gefahr zu laufen, sich in dem ihm gegenübertretenden Widerstand aufzureiben.
Darin spiegelt sich auch der wohl größte innere und äußere Konflikt des Menschen in dieser Zeit wider, daß er, wo immer er sein Dasein fristet und unter welchen Lebensumständen auch immer, er durch andere und durch sich selbst daran gehindert wird, seine ihm angeborene Wahrhaftigkeit zu leben und zu sein, was er ist, in all seiner Kraft und Größe.
Eingespannt in ein System willkürlicher Macht und willkürlichem Recht, diesem scheinbar ausgeliefert, gilt all sein Trachten und Streben seinem materiellen und psychischem Überleben und für anderes bleibt ihm keine Kraft und Zeit.
Auf schwankendem Boden stehend, stets Gefahr laufend, ins Bodenlose zu stürzen sucht er verzweifelt nach Mitteln und Wegen sich zu befreien und verstrickt sich dabei immer mehr in einem Netz von Unwahrheit und Angst.Denn dies ist eine der mächtigsten Wurzeln der Angst, der Mangel an Wahrhaftigkeit sich selbst und anderen gegenüber.
Könnten wir nur wahrhaftig sein, wie sehr würde unser Dasein sich wandeln und wie einfach gelänge, was unmöglich erscheint, nämlich die Befreiung aus der Umklammerung der Angst vor der Angst.
Wir alle wissen um diese Notwendigkeit zur Wahrhaftigkeit und selten mag es uns im einzelnen gelingen, dieser zu ihrem Recht zu verhelfen. Und wann immer uns dies gelingt, verspüren wir ein wenig von jener Kraft, welche dadurch wirksam wird und den Boden unter unseren Füßen festigt.
Doch all zu rasch neigen wir dazu, sei es aus Bequemlichkeit oder um eines geringen Vorteils willen, uns wieder in das alte Netz aus Schein und Trug , welches uns zur Heimat geworden ist, fallen zu lassen und auf alten, ausgetretenen Pfaden weiter zu ziehen.
Was hat es nun auf sich mit dieser Wahrhaftigkeit, welche wie es den Anschein hat, ein so wesentlicher Faktor in Bezug auf unsere Ängste zu sein scheint?
Was unterscheidet sie von der Wahrheit, welcher wir, wie wir meinen doch in hohem Maße verpflichtet sind, und auch versuchen , so gut wir es vermögen, Genüge zu leisten?
Handelt es sich bei der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit nicht um ein und dasselbe, zu unterscheiden lediglich durch ihre anders gearteten Ansprüche? Ist ein Mensch, welcher der Wahrheit sich verpflichtet nicht auch in selbem Maße wahrhaftig oder verleitet die Ähnlichkeit der beiden Begriffe dazu, sie für ein und dasselbe zu halten?
Wenn nun aber der bestehende Mangel an Wahrhaftigkeit in einem ursächlichen Zusammenhang steht mit unseren Ängsten, scheint nicht auszuschließen, daß die beiden Begriffe in all ihrer Ähnlichkeit des Gemeinsamen doch in hohem Maße entbehren.
Zumal auch jene Menschen, welche in ihrem Dasein bemüht sind, sich an das zu halten, was sie oder andere für wahr erkannt zu haben meinen, nicht frei von den uns allen bekannten Ängsten sind und ihnen ebenso ausgeliefert sind, wie wir selbst.So erscheint es angebracht, sich der beiden Begriffe anzunehmen und diese auf ihre Inhalte und ihre Anforderungen zu überprüfen.
Der Einfachheit halber wenden wir uns zuerst der Wahrheit zu, da dieser Begriff dem allgemeinen Sprachgebrauch angehört und wir davon ausgehen können, nicht aneinander vorbei zu reden.
Schon bei dem Versuch, den Begriff Wahrheit exakt zu definieren, geraten wir in Not und es scheint als entzöge er sich einer genauen Beschreibung.
Dies läßt den Schluß zu, daß es sich hiebei möglicherweise um einen absoluten Begriff handeln könnte, welcher keine Umschreibung zu läßt. „Wahrheit ist, was wahr ist“ wäre die einfachste Form der Definition.
Und doch spüren wir den Mangel, welcher hinter dieser Beschreibung steckt. Gibt diese uns zwar ein Bild davon, was Wahrheit ist, liefert uns jedoch keine Hinweise darüber, wie die Theorie in der Praxis anzuwenden wäre.
Diese so einfach erscheinende Definition der Wahrheit stellt alle seit Menschengedenken existierenden Theorien und Konzepte in Frage, sowohl die allgemeinen als auch unsere höchst privaten. Vor allem deshalb, weil diese sich jeglicher persönlichen und individuellen Interpretation entzieht und kein uns geläufiges Mittel im Umgang mit der Wahrheit weiterhin anwendbar zu sein scheint.
Daraus folgert auch, daß wir nicht mehr in der Lage sind, uns der Wahrheit um unseres Vorteils willen zu bedienen, sondern aufgefordert ihr zu dienen.
Wenn also Wahrheit sich als das, was wahr ist definiert sehen wir uns der Tatsache gegenüber, daß alles, was wir bisher für wahr gehalten haben unbrauchbar geworden ist und wir aufgefordert sind, Wahrheit neu zu entdecken und zu erforschen ohne uns von unbrauchbaren Definitionen beirren zu lassen.
Der Wahrheit zu dienen scheint uns vor eine unlösbare Aufgabe zu stellen, waren wir doch bislang darin geübt, diese ohne Bedenken in unserem Sinne zu gebrauchen und uns ihrer, wann immer dies uns nötig erschien , zu bedienen um unsere höchst persönlichen und privaten Ziele zu erreichen, koste es, was immer es wolle.
Nun da wir zur Einsicht gelangt sind, daß Wahrheit unbeugsam ist und sich im Grunde jedes Mißbrauchs entzieht, sind wohl eher wir es, welche sich dieser Wahrheit zu beugen haben, wollen wir zu nserem Wohle und zum Wohle der gesamten Menschheit wirksam werden und uns darüber hinaus unserer Ängste ein für alle Mal entledigen.
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